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Wir wußten, dass wir in ein Vernichtungslager verschoben werden. Wieviel kann eine Mutter mit zwei Kindern verkraften?

Alice Salmon an eine Jugendfreundin in St. Ingbert

Razzien

Die Interniertenkartei des Lages Gurs ist ein Zeitzeugnis, das auch dann noch spricht, wenn die Stimmen der Zeitzeug*innen verstummt sind. Denn die meisten der im Lager Gurs internierten Saarländer*innen sind verstorben. Nur noch zwei der am 22. Oktober 1940 Deportierten leben noch. Es sind die damals zweijährige Mathel Salmon und ihr zehn Jahre alter Bruder Fred, die mit ihren Eltern 1942 von Gurs in die USA emigrierten. Sie haben alle Kontakte zum Saarland abgebrochen; weshalb sie als Zeitzeug*innen nicht mehr zur Verfügung stehen. Die erhaltene Interniertenkartei hingegen dokumentiert das Leid der Internierten aus dem Saarland. Die Dokumente bezeugen die Rettung durch Flucht und Beurlaubung und die damit gebotene Chance, in einem Versteck oder durch die Emigration nach Übersee zu überleben, wie auch den Tod im Lager oder die Auslieferung an Deutschland.
 
Die Karteikarten bezeugen vor allem den Endpunkt jener internierten Saarländer*innen, die im Sommer 1942 im Rahmen von Razzien interniert worden waren. Die Razzien auf ausländische Jüdinnen und Juden in Paris am 16./17. Juli 1942, die daraufhin vorerst im Pariser Radstadion Velodrome d'Hiver interniert wurden, waren ein „Warnsignal für die Juden in der unbesetzten Zone“, schreibt Gerhard J. Teschner auf Seite 274 seiner 2002 unter dem Titel „Die Deportation der badischen und saarpfälzischen Juden am 22.Oktober 1940. Vorgeschichte und Durchführung der Deportation und das weitere Schicksal der Deportierten bis zum Kriegsende im Kontext der deutschen und französischen Judenpolitik“ erschienen Dissertation. Denn vier Wochen später wurde den Regionalpräfekten telegrafisch mitgeteilt, dass die Kriterien für Verhaftungen bzw. Abschiebungen deutlich gesenkt wurden. Das bedeutete, dass die französische Polizei staatenlose und ausländische Jüdinnen und Juden an ihren jeweiligen Wohnorten verhaften konnte, was ab dem 26. August 1942 der Fall war. Die Vichy-Regierung hatte der Forderung Deutschlands nachzukommen und für das Jahr 1942 10.000 ausländische Jüdinnen und Juden aus der unbesetzten Zone Frankreichs in die Vernichtungslager zu deportieren.

Davon betroffen war die 1909 im pfälzischen Konken geborene und ab ihrem 13. Lebensjahr in St. Wendel lebende Gertrude Lydia Drexler. Sie war mit ihren Eltern und ihrer Schwester 1935 nach Luxemburg emigriert. Sie war im Mai 1940 in Gurs interniert, wurde entlassen und ließ sich in Périgeux nieder. Sie wurde offenbar bei einer Razzia verhaftet und erneut in Gurs interniert. Sie kam von dort in das Durchgangslager Drancy und verstarb dort am 2. September 1942 vor ihrer Deportation nach Auschwitz.

Nach der Besetzung der ehemals unbesetzten Zone Frankreichs durch NS-Deutschland am 10. November 1942 verschärfte sich die Lage abermals. Auch in Nizza, wohin viele Künstler*innen und Intellektuelle geflüchtet waren, fanden Razzien statt, nachdem die seit November 1942 bestehende Verwaltung im September 1943 durch Italien abgesetzt worden und die Region nun von NS-Deutschland besetzt war. Israel Lanz, der in St. Wendel mit seiner Frau ein Schuhgeschäft geführt hatte, wurde dort im Februar 1943 verhaftet und nach Gurs gebracht und von deportiert.

Ludwig Lazar aus Illingen konnte sich seiner Verhaftung 1943 entziehen. Auch er war 1941 aus Gurs entlassen worden und ging zurück nach Nyons, wohin viele Illinger Jüdinnen und Juden nach 1935 geflohen waren. Sie hatten dort eine jüdische Gemeinde aufgebaut. Als auch dort die Gestapo erschien, versteckte er sich in dem Glauben, dass man nur ihn verhafteten will, aber seine Familie verschonen wird. Seine Frau und die mittlerweile fünf Kinder wurden verhaftet, nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Ludwig Lazar gelang die Emigration in die USA. Er erfuhr erst 1963 vom Schicksal seiner Familie.

Nach einem Anschlag auf zwei deutsche Offiziere mussten als „Sühnemaßnahme“ 2.000 Jüdinnen und Juden aus der vormals unbesetzten Zone Frankreichs verhaftet werden. Dazu zählten nicht nur in Arbeitstrupps abgeordnete Juden und Internierte aus dem Lager Nexon, sondern auch isoliert lebende Jüdinnen und Juden. Das Lager Gurs war für „die im Südwesten der freien Zone Verhafteten“, so Gerhard J. Teschner auf Seite 308 seiner Dissertation, zum Sammellager geworden. Die Zahl der Internierten war am 28.  Februar 1943 auf 2.775 Personen angestiegen, obwohl am Vortag ein Transport mit 975 Jüdinnen und Juden von Gurs nach Drancy abging, dem zuvor verhaftete und in Gurs internierte jüdische Saarländer*innen angehörten, z. B. Kurt Moses Aron aus Fraulautern, Aron Ludwig aus Homburg und Herbert Bernard aus Beckingen.

Die Karteikarten zeigen, dass diese im Südwesten Frankreichs lebenden emigrierten Jüdinnen und Juden aus dem Saarland verhältnismäßig spät „geraffelt“ wurden, wie es der aus Mannheim stammende Gurs-Internierte Ludwig Mann in seinem Bericht „Heldentum in Gurs“ nannte. „Raffeln“ ist eine Ableitung des französischen Wortes für „Razzia“. Die auf diese Weise nach Gurs gekommenen Menschen wurden in einem gesonderten Ilot interniert. Die im Februar 1943 verhafteten Jüdinnen und Juden verbrachten höchstens sechs und mindestens vier Tage in Gurs bevor sie am 4. März 1943 in das Vernichtungslager Sobibor gebracht wurden.

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