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Wir wußten, dass wir in ein Vernichtungslager verschoben werden. Wieviel kann eine Mutter mit zwei Kindern verkraften?

Alice Salmon an eine Jugendfreundin in St. Ingbert

Auslieferung

Mit der Unterzeichnung des Waffenstillstandsabkommens (WAKO) zwischen Deutschland und Frankreich am 21. Juni 1940 in Rethondes bei Compiègne trat ein Artikel in Kraft, der sich auf die Situation der Internierten in den Lagern in der unbesetzten Zone Frankreichs auswirkte. Genauer gesagt: Es waren die Absätze 1 und 2 des Artikels 19, welche die Situation der in Gurs internierten Spanienkämpfer*innen und der in Gurs als „Feindliche Ausländer“ internierten Saaremigrant*innen verändern konnten. 

Absatz 1 sah vor: Alle Kriegs- und Zivilgefangenen, „die wegen einer Tat zu Gunsten des deutschen Reiches festgenommen und verurteilt worden sind, sind unverzüglich den deutschen Truppen zu übergeben.“

Absatz 2 legte fest: „Die französische Regierung ist verpflichtet, alle in Frankreich sowie in den französischen Besitzungen befindlichen Deutschen, die von der deutschen Reichsregierung namhaft gemacht werden, auf Verlangen auszuliefern.“

Diese Verfügungen betrafen nicht die von Deutschland nach Frankreich emigrierten Jüdinnen und Juden. Im Mai 1940 waren sie zwar gemeinsam mit den vor politischer Verfolgung nach Frankreich geflohenen Emigrant*innen als „Feindliche Ausländer“ in Gurs interniert worden, jedoch galt für sie weder Absatz 1 noch Absatz 2 des Artikels 19. Sie sollten nicht nach Deutschland zurückkehren. Daran bestand kein Interesse, wie das Protokoll der Sitzung der Unterkommission für Zivilinternierte und Kriegsgefangene der WAKO vom 2. Juli 1940 vermerkt. Die sogenannte „Wagner-Bürckel-Aktion“ sollte wenige Monate später auf drastische und perfide Weise zeigen, wie Deutschland zu diesem Zeitpunkt mit deutschen Jüdinnen und Juden verfahren wollte: Sie sollten zu diesem Zeitpunkt aus Deutschland abgeschoben werden. Die Vichy-Regierung tat ein Übriges und sorgte mit dem Erlass vom 4. Oktober 1940 für die Internierung der vor rassischer Verfolgung nach Frankreich geflohenen Jüdinnen und Juden. Das galt auch für die aus dem Saarland deportierten Jüdinnen und Juden.

Am 17. August 1940 wurden 750 Personen aus dem Lager Gurs über Bordeaux nach Deutschland zurückgeführt. Christian Eggers schätzt in seiner Publikation „Unerwünschte Ausländer“, dass bis Mitte August 1940 7.000 Internierte aus der unbesetzten Zone Frankreichs offenkundig auf eigenen Wunsch zurück nach Deutschland gelangten. Dazu trug auch die „Kundt-Kommission“ bei, die von dem im Außenministerium tätigen Legationsrat Ernst Kundt geleitet wurde. Diese war im Auftrag der WAKO, die ihren Sitz in Wiesbaden hatte, vom 27. Juli bis zum 3. September 1940 in den Lagern im unbesetzten Teil Frankreichs unterwegs. Ziel der Inspektionsreise war es, die dort internierten Deutschen von einer Rückkehr nach Deutschland zu überzeugen. Eine weitere Absicht Kundts war, an die Listen der Internierten zu kommen. Das erwies sich in Gurs wegen der im Sommer zerstörten Lagerkartei schwierig. Dennoch erreichte die Kundt-Kommission, dass 800 Internierte aus den Lagern der unbesetzten Zone Frankreichs bis Ende September nach Deutschland repatriiert wurden.

Eine Reihe von Karteikarten der in Gurs Internierten vermerkt außer dem Datum der Einlieferung die Bemerkung „remise aux autorités allemands“, an die deutschen Behörden übergeben. Die Karteikarten einer Therese Doerr und eines Johann Linn datieren diese Übergabe auf den 9. September 1940. Diese beiden Personen gehören offenbar zu jenen Internierten, die dem Vorschlag der Kundt-Kommission folgten. Auch die Karteikarte von Ludwig Lahm, der nach 1933 aus Kaiserslautern ins Saargebiet geflohen war, vermerkt, dass er am 28. November 1940 zusammen mit 65 Reichsdeutschen nach Deutschland zurückgeführt wurde. 

Ab September 1940 begleiteten sogenannte „Rückführungsbeauftragte“ die deutschen Kontrollkommissionen bei deren Besuchen in den Lagern. Diese Aufgabe übernahmen auf Vorschlag des Generalkonsuls von Lyon, Robatel, Vertreter des Französischen Roten Kreuzes. 22 Kontrollkommissionen waren in den Lagern unterwegs, um rückkehrwillige „Reichsdeutsche“ zu finden. Die Rückkehrbeauftragten waren bis Juni 1941 aktiv. Danach gab es keine Hinweise mehr auf deren Tätigkeit in den Lagern der unbesetzten Zone Frankreichs. Die Interniertendatei verzeichnet mehrere Einträge „remise aux autorités allemands“ in der ersten Jahreshälfte 1941, unter anderem für die 20 Jahre alte Edith Rüser aus Saarbrücken, den Spanienkämpfer Reinhold Ruth aus Neunkirchen oder Fritz Christian Lehmann aus Saarbrücken. 

Deren Entscheidung mag mehr oder weniger freiwillig gewesen sein. Es ging wohl in erster Linie darum, das Elend der Internierung in Gurs hinter sich zu lassen. Auch mag mit der Rückkehr die Absicht oder der Auftrag verbunden gewesen sein, in Deutschland verdeckt den Kampf gegen den Faschismus wieder aufzunehmen. Vielleicht war mit der Rückkehr aber auch einfach nur die Hoffnung geknüpft, nach den harten Jahren der Emigration und der damit verbundenen Zeit in den Auffang- und Internierungslagern nun nicht weiter verfolgt zu werden. Jedoch war dies für viele der Rückkehrer*innen ein tödlicher Irrtum. Über ein Auffanglager in Straßburg kamen sie in Deutschland in Haft, unter anderem im Saarbrücker Gefängnis Lerchesflur und im Gestapo-Lager Neue Bremm, bevor sie in Konzentrationslager in Deutschland eingewiesen wurden.

Ab November 1942 – also nach der deutschen Besetzung von ganz Frankreich – erfolgten die Festnahmen von Saaremigrant*innen in der ehemals unbesetzten Zone Frankreichs auf der Grundlage des NS-Verfolgungssystems. Das bedeutet: Die nun erfolgten Maßnahmen gegen die Saaremigrant*innen hatten mit einer freiwilligen Rückkehr zum Zweck der Repatriierung nichts mehr gemein.

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