Erna Berl, Brief vom 6. November 1940 aus Gurs an ihren Sohn Fritz
Mit der Ankunft der 6.500 Menschen aus Baden, der Pfalz und dem Saarland am 25./26. Oktober 1940 im Lager Gurs bahnte sich eine humanitäre Katastrophe an. Zu diesem Zeitpunkt waren in Gurs rund 12.000 Menschen interniert.
Dazu kam, dass unter den Menschen, die aus Anlass der sogenannten „Wagner-Bürckel-Aktion“ verschleppt worden waren, sehr viele ältere Menschen und Kinder waren. Diese waren den Zuständen, der Kälte, dem Nahrungsmangel und den hygienischen Bedingungen hilflos ausgeliefert. Denn auf diese Situation war man im Lager nicht vorbereitet.
Der bei der Ankunft einsetzende Regen hatte das Gelände gerade für ältere, ohnehin durch die Strapazen des Transportes geschwächte Menschen unpassierbar gemacht. Wer zu den sanitären Anlagen wollte, musste durch tiefen Schlamm waten. Kaum einer, der nicht in dem Morast versank und nur mit viel Mühe seine sofort durchnässten Schuhe herausziehen konnte. Um die auf einem Podest aufgestellten Toiletten zu erreichen, waren mehrere Stufen hochzusteigen. Allein diese alltägliche Verrichtung geriet dadurch zu einem Kraftakt. Auch die Baracken, die nur notdürftig mit einem kleinen Ofen zu beheizen waren und statt Fenstern Holzluken hatten, boten keinen Schutz vor der Kälte. Die Menschen lagen auf einfachen Strohsäcken in Kälte und Dunkelheit. Essen war gerade einmal für die Hälfte der Internierten in Gurs vorhanden.
Um die Jahreswende 1940/1941 nahmen die Hilfsorganisationen ihre Arbeit im Lager Gurs wieder auf, die sie nach den Entlassungen im Sommer 1940 eingestellt hatten. Ende 1940 waren 30 Hilfsorganisationen vor Ort und halfen vor allem mit Nahrung aus. Die Hälfte des damals im Lager ausgegebenen Essens kam von ihnen. Ohne die Hilfe dieser Organisationen wären die Menschen verhungert – zumal die Tagesrationen gering waren. Ein*e Internierte erhielt laut offizieller Version pro Tag 300 Gramm Brot, 500 Gramm Gemüse, 10 Gramm Fett, 16 Gramm Zucker, 30 Gramm Fleisch und zweimal die Woche Obst. Die Realität war eine wässrige Steckrübensuppe, und statt Obst wurden getrocknete Datteln ausgegeben. Die Menschen mussten mit knapp 850 Kalorien am Tag auskommen. Auszehrung und drastischer Gewichtsverlust waren zusammen mit der Kälte und dem allgegenwärtigen Schmutz die Ursachen für zahlreiche Erkrankungen und Todesfälle. Wer über Geld und Kontakte verfügte, konnte sich auf dem Schwarzmarkt zusätzlich Nahrung verschaffen. Aber woher sollten die deportierten Saarländer*innen Geld nehmen, wenn ihnen nur 100 Reichsmark geblieben waren?
Die aus St. Wendel verschleppte Erna Berl schreibt dazu am 6. November 1940 an ihren mittlerweile in Palästina lebenden Sohn Fritz: “[W]enn ihr könnt, sendet mir Lebensmittel, Geld, es ist mir schwer, Euch, meine Lieben, darum zu bitten. […] An Onkel Lothar habe ich auch um Lebensmittel gebeten und Zahnbürste u.s.w.“ Die Situation von Erna Berl hatte sich im Lauf der Jahre etwas gebessert, weil sie von einer Hilfsorganisation und von in der Umgebung lebenden Saaremigrant*innen unterstützt wurde. Davon berichtet sie ihrem Sohn in einem Brief vom 26. März 1942, fünf Monate vor ihrer Deportation nach Auschwitz: „Jetzt bin ich 2 Monate dem Secours-National zugeteilt, da bekomme ich am Nachmittag um 5 Uhr eine Suppe, Erbsenbrei, etwas Marmelade und ein Stücke Ceks (sic!). Die Karte läuft bis 25. April. Ich bin glücklich damit, da ich nur noch 82 Pfund wiege. […] Gestern erhielt (ich) nach 15 Monaten ein Päckchen von Berthold Sender aus Riberar mit 6 Eier,1 Döschen Sülze, einige Karotten, die ich mir gleich auf einem Öfchen, aus einer Conserven-Dose (sic!) gearbeitet, gekocht habe, mit einem Bouillon-Würfel auch ohne Fett, mit etwas Ölersatz hat es mir gut geschmeckt.“
Das Schweizer Kinderhilfswerk Secours Suisse aux Enfants, das sich durch das Wirken der Krankenschwester Elsbeth Kasser große Verdienste erwarb, versorgte die Kinder mit Trinkschokolade und zusätzlichen Mahlzeiten. Auch kümmerte sich Elsbeth Kasser um die Ausstattung der Baracken, damit die Internierten Tische und Stühle hatten.
Die Hilfsorganisationen kirchlicher sowie nicht-kirchlicher Gemeinschaften schlossen sich im November 1940 zum Comité de Nîmes zusammen, das nach dem Sitz der Organisation, der Stadt Nîmes, benannt war. Zu den rund 30 Mitgliedern gehörten unter anderem das protestantische Hilfswerk CIMADE, die Französische Reformierten Kirche und das Französische Rote Kreuz. Die „Society of Friends“, die amerikanische Glaubensgemeinschaft der Quäker, half mit Speisungen mit Milchreis für Kinder und Schwache. Die Unitarier versorgten das Lager notdürftig mit Medikamenten, denn daran herrschte großer Mangel.
Die jüdische Organisation „Organisation reconstruction travail (ORT)” richtete im Lager Rivesaltes Werkstätten für Metall oder Friseurhandwerk ein, damit die dort untergebrachten Jugendlichen ein Handwerk erlernen konnten.
Der Sekretär des Erzbischofs von Lyon, Abbé Alexandre Glasberg, gründete Zentren, die sogenannten „Häuser des Abbé Glasberg“, unter anderem in Schlössern oder ehemaligen Hotels der Umgebung. Er konnte auf diesem Weg erwachsene Internierte aus den Lagern befreien, um sie für die Arbeit in der Landwirtschaft einzusetzen und damit ihre Chancen zu erhöhen, den Deportationen zu entgehen.
Die über Leben und Tod entscheidenden Hilfen für die Kinder und Jugendlichen kamen insbesondere von dem jüdischen Kinderhilfswerk “Œuvre de Secours aux Enfants (OSE)”, der Organisation der Jüdischen Pfadfinder Frankreichs, Eclaireurs Israélites de France, und den Quäkern. Sie holten seit Mitte 1941 die Kinder und Jugendlichen aus den Lagern Gurs und Rivesaltes. Sie brachten sie in Kinderheime unter, die von ihnen unterhalten wurden.