Alice Salmon an eine Jugendfreundin in St. Ingbert
Der 20. Januar 1942 blieb nicht ohne Folgen für die in Gurs internierten Menschen aus dem Saarland: Bei der an diesem Tag anberaumten Berliner Wannsee-Konferenz wurden alle zu diesem Zeitpunkt im Ausland lebenden Jüdinnen und Juden zu staatenlosen Personen erklärt. Die in Frankreich internierten Menschen saßen in der Falle, denn dort wurde am 4. Februar 1942 die Auswanderung vom deutschen Militärbefehlshaber in Frankreich verboten.
Am 20. Januar 1942 trafen sich 15 Repräsentanten des NS-Staates zur Wannsee-Konferenz, um die "Endlösung der Judenfrage" zu planen und die Zusammenarbeit der Beteiligten an der Ermordung der europäischen Jüdinnen und Juden zu koordinieren. Das Protokoll des Treffens legte fest, dass zur „Durchführung der Endlösung“ der Kontinent von Westen nach Osten „durchgekämmt“ werden sollte. Die auf diese Weise erfassten Menschen sollten dann „im Osten zum Arbeitseinsatz“ herangezogen werden und im Straßenbau arbeiten. Dabei gingen die Konferenzteilnehmer davon aus, dass ein Großteil der Verschleppten dies nicht überleben würden. Diejenigen, die diese Qual überstanden, sollten „entsprechend behandelt werden“, vermerkte das Protokoll. Das hieß nichts anderes, als dass sie ermordet werden sollten.
Bei einem Treffen im Reichssicherheitshauptamt in Berlin am 4. März 1942 gab Theodor Dannecker, SS-Hauptsturmführer und Leiter des Judenreferates der SD-Dienststelle in Paris, der Vichy-Regierung vor, Jüdinnen und Juden aus der unbesetzten Zone Frankreichs zu deportieren. In dem von Deutschland besetzten Teil des Landes wurde bereits entsprechend verfahren. Am 27. März 1942 wurden 1.112 Jüdinnen und Juden aus dem Lager Compiègne nach Auschwitz deportiert. Dannecker legte für das Jahr 1942 die Zahl der aus Frankreich zu deportierenden Jüdinnen und Juden auf 40.000 fest.
Das hieß, dass – um diese Zahl zu erreichen – auch französische Jüdinnen und Juden deportiert werden mussten. Dieser Anordnung widersetzten sich der französische Innenminister Laval und der Chef der französischen Polizei Bousquet. Die Drohung, die Polizei der unbesetzten Zone dem deutschen Befehl zu unterstellen, zeigte jedoch Wirkung. Nach einem Treffen von Polizeichef Bousquet mit dem deutschen Militärbefehlshaber am 2. Juli 1942 in Paris stimmte die Vichy-Regierung am nächsten Tag dem Vorhaben zu. Es wurden jedoch zunächst ausschließlich die in den Lagern der unbesetzten Zone internierten ausländischen Jüdinnen und Juden deportiert. Danach wurden, so wie bereits in der besetzten Zone Frankreichs geschehen, die in Freiheit lebenden Jüdinnen und Juden mit Unterstützung der französischen Polizei bei Razzien verhaftet, in Lagern gesammelt und nach Osteuropa deportiert.
Im Jahr 1942 waren rund 42.000 ausländischen Jüdinnen und Juden, darunter 11.000 aus den Lagern in der unbesetzten Zone Frankreichs, verschleppt und in Auschwitz ermordet worden. Die am 22. Oktober 1940 aus dem Saarland deportierten Saarländer*innen befanden sich in den ersten der insgesamt sechs Konvois nach Auschwitz. Der letzte Konvoi aus Gurs fuhr am 3. März 1943 mit 770 Menschen über Drancy nach Sobibor und Majdanek.
Unter den 850 Menschen, die am 6. August 1942 in das Durchgangslager Drancy und von dort über Saarbrücken nach Auschwitz kamen, war die damals 44-jährige Erna Berl aus St. Wendel. Ihr letzter Brief vom 27. Juli 1942, den sie knapp eine Woche vor ihrer Deportation an ihren in Palästina lebenden 15-jährigen Sohn Fritz adressiert hatte, ist erhalten geblieben und bezeugt die Verlorenheit an einem Ort, den man ohne Hilfe von außen nicht verlassen konnte:
„Jeden Tag kommen Leute weg. Sehr viele nach U.S.A. Alle meine Bemühungen sind erfolglos geblieben. Scheinbar gibt es für mich keinen rettenden Engel, […] es ist im Leben so, ich bin kein Glücks-Kind. Ich habe gehört, dass Familie Emmel und noch eine Menge (anderer Internierter, S.G.) kostenlos in einem katholischen Heim sind. Nur mit Beziehungen geht Alles (sic!), und dies ist hier wie überall. Ich habe mich jetzt auch bei der Assistance Catholique als Arbeitende gemeldet, und werde selbst noch einmal an den Abbé (gemeint ist Abbé Glasberg, der in seinen Zentren Internierte unterbrachte, S.G.) in Lyon schreiben.“
Zwischen März 1942 und August 1944 wurden 74.000 Jüdinnen und Juden in 77 Transporten aus Frankreich in die Vernichtungslager in Osteuropa verschleppt.
74 Menschen, die am 22. Oktober 1940 aus dem Saarland deportiert worden waren, wurden in Auschwitz ermordet.
23 Menschen, die im Saarland geboren wurden, aber am 22. Oktober 1940 aus der Pfalz oder Baden nach Gurs deportiert worden waren, wurden in Auschwitz ermordet.
59 der in Gurs internierten jüdischen Saaremigrant*innen wurden in Auschwitz, Sobibor und Majdanek ermordet.